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DAS ZWEITE FRANKFURTER
SONOPTIKUM (1993)


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LAUDATIO FÜR FABIAN MÜLLER

GEORGE GRUNTZ ZUM 80sten

LAUDATIO FÜR URS MEIER

SILSER HESSE-TAGE: KREISLER UND HESSE
LAUDATIO FÜR URS MEIER
HELFEREI ZÜRICH

25. Januar 2012



LIEBER URS - LIEBE GÄSTE
BRAHMS + SCHÖNBERG IN FRANKFURT


Am 12. September 1993 ereignete sich in der Alten Oper Frankfurt das Folgende:

Zwischen dem vierten und fünften Satz des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms erklang das Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schönberg.
Das war auch in einer ausgewiesenen Musikstadt wie Frankfurt nicht alltäglich.

Die Frage, die man sich damals stellte: Soll dieser dramaturgische Kraftakt und philharmonische Schock abgefedert werden mit musikologischer Analyse oder mit theologischer Begründung und Besänftigung, sollte man mildernde Umstände reklamieren und so dem Unterfangen schon gleich vor Beginn den Stachel ziehen? Weder das eine noch das andere war erwünscht.

Ein Grenzgänger musste gefunden werden, einer, der keine Furcht kannte vor der „12-Ton-Methode“ eines Arnold Schönberg, der andererseits aber die Bibel-Kompilation des 35jährigen Johannes Brahms ins rechte Licht zu rücken verstand und schliesslich auch den Hymnus „Sch’ma Jisroel“ im „Überlebenden von Warschau“ im Original zu lesen und auszulegen vermochte.

Dieser Grenzgänger wurde gefunden – er hiess Urs Meier.
Sein gewichtiger Essay im grossen Programmbuch der Frankfurter Oper trug die Überschrift „Wohlklang in trostloser Zeit – was Schönberg gegen Brahms vorzubringen hat“.

Wer diesen 5teiligen Essay von Urs Meier aufmerksam las, kam nicht nur mit gewichtigen Argumenten in Berührung, sondern auch mit einem meisterlich formulierten Text.

Darin gibt es Gedanken, die ein Musiker nicht ausspricht, und warum nicht: weil er von der Materie überfordert wäre.

Unzimperlich und treffsicher hingegen geht der Analytiker Meier ans Werk, nimmt die Herren Brahms und Schönberg in sein Visier und verkündet denen und uns allen – als extrem wortgewandter Exeget und Zeitgenosse - „wo Gott wirklich hockt“.
Urs Meier, der Theologe und Grenzgänger, kann sich das erlauben - er hat die Übersicht, wo Musiker nur Notenschlüssel sehen und die Verkehrsregeln des atonalen Kontrapunkts.

Urs Meier schrieb :
„Für die gewohnte Rezeption des Brahms-Requiems ist der „Überlebende aus Warschau“ zunächst eine Störung. Die schroffe Atonalität bricht ein in einen musikalischen Kosmos des ergreifenden Wohlklangs, die Erinnerung an den Holocaust kommt der Religiosität in die Quere. Das Requiem kann nicht mehr Weihestunde sein, wenn es diesen Fremdkörper dulden muss, und zur ästhetischen Erbauung fehlt mit einem Mal das Gefühl, in eine höhere Harmonie einbezogen zu sein. Der Einschub des Schönberg-Stücks reproduziert die moderne Verlegenheit angesichts der Aussage des Brahms-Requiems, dieses Inbegriffs tröstender Musik.“ Ende des Zitats.

In der Tat: so spricht kein Musiker und so spricht auch kein Theologe ... so spricht ein Grenzgänger, der in der Innenwelt der Musik ebenso zuhause ist wie in der religiösen Liturgie.

Urs Meier weiter:
„Beim Hören dürfte zunächst die Kontrasterfahrung überwältigend sein: hier die schwebende Musik, die den Körper des Harmonischen dehnt und biegt – dort die schneidenden Dissonanzen, die Schläge und die ohnmächtige Auflehnung.
Wer sich aber von dieser Gegensätzlichkeit nicht kopfscheu machen lässt, kommt alsbald den Parallelen auf die Spur. In beiden Werken herrscht der gleiche Ernst und eine unvergleichliche emotionale Dichte ...“
Ende des Zitats.

Niemand weiss, wer von den zweieinhalbtausend Zuhörern im Grossen Saal der Alten Oper den Meierschen Text von A bis Z gelesen hat. Wer sich aber auf das Abenteuer dieser Konzertmontage einlassen wollte, fand in diesem Beitrag alles, was er zur Beruhigung respektive zu seiner Beunruhigung benötigte.


GÜNTER WALLRAFF

Szenenwechsel -
wir befinden uns im Grossmünster Zürich.
Wir schreiben den 2. Oktober 1987.

Auf der Zwinglikanzel – und das heisst: ganz oben – steht Günter Wallraff, zur Zeit in aller Leute Mund wegen seines Pamphlets „Ganz unten“ – die Geschichte des Türken Ali, ein Bericht vom Sklavenmarkt, von dort also, wo der Mensch aufhört, Mitmensch zu sein.



Unsere „Viererbande“ (und das sind Urs, Erwin, Adrian und ich), wir kommen überein, den deutschen Schriftsteller und Journalisten Günter Wallraff als „Prediger“ für die dritte Musikalische Meditation einzuladen, nachdem sich diese Fernsehreihe nach dem Auftreten von Dorothee Sölle und Wolfgang Hildesheimer allmählich zu etablieren begann.

Wir beschlossen, die musikalischen Fragmente aus Haydns „Schöpfung“ in der umgekehrten Abfolge aufzuführen, also von der Vollendung zurück ins Chaos. Und Günter Wallraff sollte nicht Haydns „Schöpfung“ kommentieren als vielmehr von der Er-Schöpfung der Welt berichten. Und das tat er dann auch.

Doch so ganz einfach war es nicht, mit diesem Konzept die Vorsteherschaft des Grossmünsters zu gewinnen, es musste Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Und Urs, der Mediator unserer Meditationen wurde sogleich aktiv und ermöglichte Wallraff den Gang auf die Kanzel.

Urs war nicht nur unser engster und hochkompetenter Berater, er war immer auch der Portalöffner in all den vielen Jahren unseres gemeinsamen Wirkens in Kirche und Fernsehen.

EIN NACHSPIEL
Die Haydn-Wallraff-Sendung kam am 1. Januar 1988 ins Neujahrsprogramm der ARD – irrtümlich, wie sich alsbald herausstellte.

Die Programm-Macher hatten die Mitwirkung Wallraffs ganz einfach übersehen, hatten den Programmzettel gar nicht gelesen und den Auftritt des umstrittenen und viel geschmähten Journalisten erst während der Ausstrahlung bemerkt.

Das bundesrepublikanische Echo war gewaltig, so gewaltig, als wäre
ein Teil der Berliner Mauer vorzeitig eingestürzt
Man hörte auch umgehend die bekannte Formel vom „Köpferollen“ und dergleichen.

Aber auch bei uns war die Irritation nach dieser speziellen „Schöpfung“ spürbar.
Urs Meier kam erneut in eine heiklen Lage, musste vermitteln, balancierend auf dem Grenzzaun von Pro und Kontra.

Und immer wieder hatte er seiner Kirche zu verstehen gegeben, dass man „die Fackel der Wahrheit nicht durchs Gedränge tragen kann, ohne jemandem den Bart zu versengen ...“


URS - DER TÜRSCHLIESSER
Als alles vorbei war, schrieb Urs im Vorwort zur Buchedition:

„Günter Wallraff steigt auf die Kanzel Huldrych Zwinglis, des Zürcher Reformators. Was beide zweifellos gemeinsam haben, ist die Leidenschaft der Gerechtigkeit.

Wallraff vertraut in seiner Meditation zur „Schöpfung“ auf die Kraft des Wortes und er stellt sich der Aufgabe, das zu sagen, was ihn angreifbar macht: dass wir verkehrt leben und umkehren müssen.
Statt nach der Legitimation des Sprechers zu fragen, überlegen wir uns besser, was seine Botschaft uns angeht.

Denen aber, die von der Tatsache in Beschlag genommen sind, dass dieser Prediger sich in unsere Kirchlichkeit nicht einordnet, sei mit Zwingli geantwortet: ‚Alle, die sagen, das Evangelium gelte nichts ohne die Bestätigung der Kirche, irren und schmähen Gott’.“

Und noch ein letztes Wort zur Grossmünster-Kanzel:
Nicht von der Hauptkanzel – sondern von einer rechts neben dem Taufstein errichteten Ersatzkanzel hat im Herbst 1995 seine Heiligkeit der Dalai Lama Gedanken zu Jesus und Buddha im Dialog mit Erwin Koller vorgetragen.

Und hier, lieber Urs, liebe Gäste, hier an dieser Stelle wäre – gemäss der Dramaturgie der Musikalischen Meditationen ein Satz aus einer durchkomponierten Messe fällig.

Nun aber haben wir weder Chor noch Orchester zur Verfügung – aber wir alle haben das wundervolle „Benedictus qui venit in Nomine Domine“ aus Beethovens „Missa solemnis“ im Ohr – das „Benedictus“ mit dem zu Herzen gehenden Geigensolo - wir brauchen es uns jetzt nur vorzustellen!


HERTA MÜLLER
Herbst 1995
Unsere Redaktions-Runde berät über die Meditation im Frühjahrs ‚96.
Musikalisch ist man sich bald einig, die C-Dur-Messe von Franz Schubert sollte es sein.
Wer aber vermöchte die sanfte Textur dieser lyrischen Kirchenmusik aufzurauhen, ohne sie zu verletzen und zu beschädigen?
Ziemliche Ratlosigkeit.

Später kommt Urs hinzu. Er kommt mit einem konkreten Vorschlag, kommt mit einem schlicht klingenden Namen: Herta Müller. Und dann übergibt er uns das notwendige „Beweismaterial“.

Wir anderen hatten bisher noch nie den Namen dieser Schriftstellerin gehört.

Am 16. April des folgenden Jahres steht Herta Müller auf der Grossmünster-Kanzel.
Es ist die offene Generalprobe für die Fernseh-Aufzeichnung, die ein paar Tage später in der Abteikirche von Payerne im Waadtland stattfindet.

Bei der Aufzeichnung haben wir den Eindruck, als fürchte sich Herta Müller vor dem grellen Scheinwerferlicht, als wären für sie die Fernsehkameras bedrohliche Monster, mit denen sie sich lieber nicht anlegen wollte.

Herta Müller spricht leise, spricht leise auf der Kanzel und leise in die Mikrophone.
Nicht schüchtern, aber scheu erleben wir sie – etwas verloren zwischen den vier selbstsicher auftretenden Vokalsolisten und hineingezogen in den Sprudel der frohlockenden Chormusik.

Uns schaudert, als Herta Müller über ein Verhör im rumänischen Temeswar spricht.
Sie sagt:

„Hinter meinem Stuhl sprach der Geheimdienstler: ‚Was glaubst du, wer du bist.’ Ich sah sein Kinn von unten, die Haut war faltig. Ich dachte mir: Er ist alt. Seit zwanzig Jahren quält er Leute. Egal, was er mit mir tut, es macht ihn nicht mehr jünger. Ich sagte: ‚Ich bin ein Mensch wie Sie.’
Da nahm er mit zwei Fingern ein Haar von meiner linken Schulter. Er sah das Haar an und wollte es auf den Boden fallen lassen. Ich sagte schnell: ‚Legen Sie das Haar zurück. Das Haar gehört mir.’

Drei Sätze: Ich bin ein Mensch wie Sie. Legen Sie das Haar zurück. Das gehört mir blieben in meiner Stirn und wiederholten sich jahrelang. In den Parks, auf den Strassen und Brücken der Stadt, am Fluss übte ich sie im Kopf.“ Soweit Herta Müller.

Es ist eine der ergreifendsten und schönsten Meditationen geworden, für viele – auch für mich – die schönste überhaupt – die Meditation mit Herta Müller und mit der Musik von Franz Schubert, ein Juwel unter den 20 anderen.

Unnötig beizufügen, dass Herta Müller 13 Jahre später in Stockholm den Literaturnobelpreis in Empfang nimmt.


URS – DER GRENZGÄNGER
Jeder Grenzgänger kommt früher oder später mit dem Grenzschutz in Berührung – das hat Urs mehrfach erlebt – auch und vor allem im Zusammenhang mit unseren Meditationen.

Was wollten wir, was wolltest Du, lieber Urs, mit den 21 Meditationen eigentlich bewirken?

Dass die Musik für einmal beim Wort genommen wird – beim vertonten und gesungenen Wort – und das ist nicht üblich, denn die Musik hat sich angewöhnt, stets das erste und letzte Wort zu führen ...oder wie Peter Bichsel bei seiner „Predigt“ in St. Gallen verkündete:
„Musik schlägt einem die Worte aus der Hand“.


DANK
Aus dem zunächst zaghaften Versuch, in der Johannes-Passion anstelle der kontemplativen Arien einen kritischen Zeitgenossen predigen zu lassen, entstand in der Folge die Reihe der
21 Musikalischen Meditationen.
Weder Eitelkeit noch eitles name-dropping verleiten mich dazu, hier einige Prediger in Erinnerung zu rufen, die mit uns eine Zusammenarbeit eingingen, die im Medium Fernsehen eher unüblich war.

Zum Beispiel Wolf Biermann.
Wie war das noch mit Wolf Biermann in der Gessner-Allee, der sich in der Aufnahmepause in der Toilette einschloss und nicht mehr auf den Drehplatz zurückkehren wollte?
Er fiel aus allen Wolken, als ihm Regisseur Marthaler in der Drehpause zu verstehen gab, er möge sich vor der Kamera nicht so exaltiert aufführen. Das hat den politischen Poeten völlig aus der Bahn geworfen. „Ich hatte viel Bekümmernis“ hiess seine Predigt, aber auch die Kantate von Bach, die wir musikalisch zu seiner Rede beisteuerten.
Es war die einzige Sendung, die wir ausserhalb der Kirche realisieren mussten. Für den Widerstandskämpfer Biermann fanden wir keine Kanzel.
Aber Hand aufs Herz: Auf die Biermann-Meditation war wir doch besonders stolz.

An Akrobatik grenzten die Auftritte von Eugen Drewermann in Basel und Zürich.
Vier oder fünf komplette Durchgänge mit Chor und Orchester. Drewermann ohne Manuskript, ohne einen einzigen Versprecher und mit einem Timing ohne Stoppuhr auf die halbe Minute genau. Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus.

Alle hatten sie für uns aufrührende, berührende und dann wieder aufmüpfige Reden und Botschaften geschrieben: Dorothee Sölle, Luise Rinser, Margarete Mitscherlich, Christa Wolf, der unversöhnliche Hildesheimer, die Schweizer Muschg, Bichsel, Keel und Hohler.

Unvergessen Leonardo Boff aus Lateinamerika, Friedrich Schorlemmer aus Lutherstadt, und aus Norwegen Johann Galtung.
Die Aufzählung ist damit längst nicht beendet.


FINALE
Die Zusammenarbeit mit dir – lieber Urs - war nahezu perfekt.
Wann immer es offene Fragen gab und Details zu beraten, du warst stets erreichbar. Ein Anruf ins Evangelischen Medienzentrum genügte und die stets liebenswerte Stimme von Frau Fahrni sagte: „Moment, ich stelle durch.“

Im Vorfeld des Mozart-Jahres 1991 haben wir den Theologen Hans Küng eingeladen, auf dem Hintergrund der „Krönungsmesse“ zu meditieren.

Hans Küng hat das auf den Punkt gebracht, was wir in all den Jahren unserer intensiven Zusammenarbeit letztlich im Innersten angestrebt und immer wieder erhofft haben:

Zitat:
„Ganz fein und dünn ist die Grenze zwischen Musik und Religion. Eine einzigartige Intensität des Erlebnisses wird dort erreicht, wo die Musik ihre Energie mit der der Religion im selben Sinn und Ziel vereint. In gewissen Momenten ist es dem Menschen gegeben, sich zu öffnen, so weit zu öffnen, dass er in dem unendlich schönen Klang den Klang des Unendlichen hört.“

Ich danke Dir, lieber Urs – ich danke Ihnen, liebe Gäste.

Armin Brunner .
Januar 2012



 
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