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ARMIN BRUNNER
LAUDATIO FÜR ARVO PÄRT
EUROPÄISCHER KIRCHENMUSIK-PREIS 2005
SCHWÄBISCH-GMÜND / HEILIG-KREUZ-MÜNSTER
21. JULI 2005



Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
hochverehrter Arvo Pärt,
meine sehr verehrten Damen und Herren,


Musik sei, so Ernst Bloch, des Menschen «Ruf ins Entbehrte». Das ist ihre utopische Kraft. Was aber entbehrt, also herbeigesehnt wird, hängt von den Umständen ab. Der ungleichwertigen Weltordnung des Absolutismus setzt die Bach-Fuge die Gleichwertigkeit aller Stimmen entgegen. Im Schiller’schen Aufklärungsprogramm meldet sich die Beethoven-Sonate mit ihrem musikalischen Diskurs zu Wort. Bei der psychoanalytischen Suche nach Selbstfindung sind Schumann-Fantasien und Tschaikowsky-Sinfonien behilflich. Nach dem Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Systeme in einem von zwei grausamen Globalkriegen zerpflügten Jahrhundert rief die musikalische Kunst herbei, was entbehrt wurde – neue zuverlässige Ordnungen, dodekaphonische oder serielle oder algorithmische.

Doch wessen sind wir heute bedürftig? Schwer zu sagen.

Dem Pädagogen Hartmut von Hentig verdanken wir die Bemerkung, dass noch vor 25 Jahren junge Menschen mehr kritische Distanz und rationale Entzauberungen benötigt hätten, dass sie heute indessen liebevoll bergende Behausung, einfache Lebensmuster und schützende Wärme brauchten.



MUSIK DER STILLE
Musik der Stille, der Gewaltlosigkeit, der Innerlichkeit, Musik der Versöhnlichkeit und der schönen Augenblicke, Musik ohne auftrumpfende Allüren, eine Musik jenseits doktrinärer Komplexitäten ... sie wäre an der Zeit. Aber leicht gerät sie in den Verdacht der gewichts- und bedeutungslosen Leichtigkeit. Was einfach zu sein scheint, scheint einfach kritisierbar. Hier stößt man schnell an prinzipielle Grenzen: Ist Musik für den Menschen gemacht, oder ist der Mensch zu formen nach dem Bilde einer Musik? Damit begebe ich mich, ich weiss es, auf ein altes Kampfgebiet: Hat als gut zu gelten, was beliebt und akzeptiert ist, oder sollte sich Musik den Teufel scheren um Volkes Stimme?

Musik, die eine grosse Zuhörerschaft erreicht und diese nachhaltig beeindruckt, gerät schnell einmal in den Verruf, kommerzielle Kompromisse zu schliessen, gewissenlos sich anzubiedern. Seit Fratres und Tabula Rasa ist die Musik von Arvo Pärt diesem Verdacht ausgesetzt und solchen Anfeindungen.

Die Musikpsychologie, längst eine respektable Wissenschaft, nimmt sich des Menschen an, nicht der kompositorischen Systeme. Sie erkundet Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung, sucht nach Antworten auch auf die offene Frage, warum so hochkomplexe Musik nach den Gesetzestafeln der musikalischen Avantgarde trotz aufwändigster Bemühungen nie ins Bewusstsein des allgemeinen Publikums gedrungen ist. Sie forscht nach Gründen von Akzeptanzen und Verweigerungen, sie beleuchtet jenen kritischen Punkt, wo der Dialog zwischen Musik und Mensch scheitert, zwangsweise scheitern muss. Sie stellt einfache Fragen, zum Beispiel an Jugendliche ... wozu sie Musik gebrauchen, wie sie mit ihr umgehen, in welcher Weise ihnen Musik ein «Ruf ins Entbehrte» ist.



HÖRERTYPOLOGIEN
In der Studie von Klaus-Ernst Behne aus dem Jahr 1986 mit dem Titel Hörertypologien - Zur Psychologie des jugendlichen Musikgeschmacks sind acht exemplarische Umgangsweisen mit Musik aufgelistet, die ohne allen Zweifel nicht nur für Jugendliche Geltung haben, sondern auch für den gesellschaftlichen Rest gleich welchen Alters.

Das sog. Motorische Hören führt die «Strukturen der acht Hörweisen» an. Eine Wahrnehmungsform, wo man mitsingt und sich am liebsten immer bewegen möchte, wo die Signale der Musik auf physiologische Weise verarbeitet werden im Sinne einer körperlichen Ganzheitlichkeit.

Die zweitwichtigste Wahrnehmungsform ist das Kompensatorische Hören. Dort bringt die Musik den Rezipienten auf andere Gedanken, verscheucht dunkle Problemwolken und seelische Einsamkeit, dort spendet Musik Trost, wie das einst im Finalsatz von Mahlers Neunter Sinfonie noch erlaubt war.

Es folgt das Vegetative Hören. Dabei, so berichten die Jugendlichen, kann es sein, dass sie ganz gefangen seien von Bewegung und Stillstand, ein Kribbeln auf der Haut fühlten oder zu Tränen sich rühren liessen.

Nachgeordnet das Diffuse Hören. Es funktioniert z.B. beim Schularbeitenmachen, beim Briefeschreiben, Tagträumen.

Häufig genannt werden das Emotionale und das Sentimentale Hören. Man badet in den Klängen der Musik, bis man in ihnen buchstäblich versinkt. Oder wird durch Musik an früher erlebte Momente erinnert, möchte dabei träumen, manchmal sogar weinen.

Diese Hörweise ist verschwistert mit dem Assoziativen Hören. Hier kommt es zu bildhaften inneren Vorstellungen, als liefe zeitgleich ein Film ab.

Warum ich von diesen sieben essentiell menschlichen Hörformen berichte? Weil ich mir eine achte bislang aufgespart habe, das sog. Distanzierende Hören. Es ist nach empirischen Befunden die seltenste, die unwichtigste Wahrnehmungsform. Nur hin und wieder geben Jugendliche kund, dass sie es auch mal interessant fänden, den Formaufbau eines Stückes, die Themen, Rhythmen oder Harmonien zu verfolgen und wie der Komponist das Werk gestaltet habe. Das analytische Interesse aber ist vergleichsweise marginal. Wichtig scheint Musik für dieses und jenes zu sein, kaum aber als Medium des geistigen Exerzitiums. Hauptsächlich und vorderhand will Musik ganzheitlich vernommen, höchst selten und sehr viel später vielleicht studiert und analysiert werden. Des Hörers Interesse richtet sich vornehmlich auf die tönende Gestalt und ihre Klang-«Rede», selten auf ihr Röntgenbild oder auf die Tabelle mit den Blutwerten.



MUSIK AUF DAS REISSBRETT GESPANNT
Und trotzdem wird, wo immer über Musik gesprochen und geschrieben wird, ebendiese Musik ausschliesslich analytisch, vornehmlich distanziert ausgeleuchtet und bewertet. Man spannt Musik aufs Reissbrett und ist gespannt auf kontrapunktische Texturen, auf motivische Korrespondenzen, thematische Metamorphosen oder mikrotonale Netzwerke.

Will man so beweisen, dass die Musik – trotz aller Kränklichkeit – gesund sei? Selbst ein kontrapunktischer Schachspieler namens Johann Sebastian Bach hatte nichts anderes im Sinn als das Lob Gottes und die «Recreation des Gemüths» von Menschen, er hätte nichts dagegen gehabt, ein sechsstimmiges Ricercar «vegetativ» oder «emotional» zu vernehmen gleich einem rätselhaft tönenden Kosmos. Mag sein, dass der erste Satz aus Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta eine komplizierte Fächerfuge im Spannungsraum eines Tritonus ist, zuallererst aber weckt sie Assoziationen von Dunkelheit und Licht, von Qual und Erlösung und strahlender Zielfindung. Die Struktur ist Bartóks Privatsache. So gut hat er sie versteckt, dass ein Hörer in den Klangstrom – sei es «vegetativ», sei es «kompensatorisch» – ohne weiteres eintauchen kann.

Mag sein, dass dem zweiten Satz von Tabula Rasa hochkomplexe algorithmische Strukturen zugrunde liegen. Was wir z.B. in Silentium vernehmen, ist nur jener Teil eines grossräumigen und weitgeschwungenen Kurvenverlaufs, der in die Atmosphäre unserer akustisch-instrumentalen Wirklichkeit eintritt. Erkennbar und spürbar ist jedoch, dass sich die langgezogenen und riesigen Bögen im Unsichtbaren, d.h. im Unhörbaren zu vollenden scheinen. Will sagen: Auch die Musik von Arvo Pärt kann man aufs Reissbrett spannen – dabei hat sie nichts zu befürchten und nichts zu verbergen. Mehr noch: Dass sich in Arvo Pärts Rationalität und Spiritualität Parallelen zum Denken und Schaffen von Anton Webern nachweisen lassen, offenbart sich der analytischen Betrachtung, ich nehme es mit aller Offenheit und mit Bewunderung zur Kenntnis.

Trotzdem erreicht Pärts Musik ein Publikum, sei es in der Kirche, sei es im Konzertsaal oder in den eigenen vier Wänden. Sie erreicht viele Menschen ohne Umweg über musikologische Analyse. Pärts sparsame Kommentare zu seinen Werken verzichten auf Schwulst und Dogmatik, es braucht keine Entschuldigung für Dur- und Moll-Akkorde ... auch Mozart wäre kaum auf den absurden Gedanken verfallen, um Nachsicht zu bitten für seine zahllosen Alberti-Bässe.



EINE KOSTBARE TUGEND
Mit Arvo Pärt kommt ein Begriff in die Welt zurück, der scheinbar für immer verloren schien: Demut. Demut vor dem Einzelton. Demut vor dem Dreiklang. Demut vor der Geradlinigkeit. Demut vor den Grenzen einer menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Seit Nietzsches Verdikt, Demut gehöre «zu den verleumderischen Idealen, hinter denen sich Feigheit und Schwäche verstecken ...», seit diesem Bannfluch ist es merkwürdig still geworden um die kostbare Tugend.


Ersinnt also heute jemand Musik, die den Mut zu provokativer Einfachheit aufbringt, eine Musik, der es auf Vernehmbarkeit, auf Versöhnlichkeit ankommt, so wäre die Empörung über angebliche Simplizität, über gefälligen Populismus durch und durch inhuman.

«Es genügt, einen Ton schön zu spielen.» Diese Bemerkung von Arvo Pärt ist oft zitiert worden, man kann sie gegen ihn verwenden. Oder für ihn. Denn wer dächte beim Hören von Arvo Pärts Musik nicht unwillkürlich an Schönheit? «Die Wahrheit der Kunst ist ihre Schönheit», soll Thomas Mann irgendwo geschrieben haben. Auch sollten wir nicht vergessen, dass Schönheit ohne grosse Anstrengung nie gelingt.

Die gegenwärtig unverkennbare «Wiederkehr des Schönen» in Gesellschaft und Kunst begreife ich als eine Art Gegengewicht zum aktuellen Terror, der aus allen Medienkanälen rinnt im Stundentakt. Als Mittel, sich mit einer Welt zu versöhnen, die je globaler, desto unversöhnlicher sich darstellt. Das «Schöne» als längst fällige Wiedergutmachung daran, was die Gewalt im 20. Jahrhundert zerbombte. Als Widerspruch gegen die Proklamation des amerikanischen Malers Barnett Newman im Jahr 1948: «Der Impuls moderner Kunst ist der Wunsch, Schönheit zu zerstören.» Damals war das wohl richtig, weil notwendig. Heute müssen andere Nöte gewendet werden.

Der Geist weht, wo er will, vor allem in der Musik. Noch immer gilt Eduard Hanslicks Einsicht, ihre Geistigkeit sei gestaltbar aus geistfähigem Material. Doch sollte er dem Menschen nicht kalt ins Gesicht wehen. Das hat selbst die streng regulierte Musik eines Johannes Brahms nie getan, im Gegenteil. Dabei darf man durchaus in Rechnung stellen, dass es dann und wann ein Bedürfnis gibt nach gelungenen mathematischen Beweisen oder raffinierten Glasperlenspielen. Andererseits aber warten fundamentale Bedürftigkeiten (nicht nur bei Jugendlichen) dringend darauf, dass man sie ernst nimmt ... Bedürftigkeiten nach Trost und Zuspruch, Geheimnis und Abenteuer, nach Deutung und Verzauberung, Konflikt und Frieden.



NOBLE SCHÖNHEIT
Damit meine ich nicht jene Gemütlichkeit eines Musikantenstadls. Ich meine die feine Verletzlichkeit der Musik von Arvo Pärt, welche störend, verstörend sich einmischt, ohne zu verletzen. Ich meine ihre Ernsthaftigkeit, die auf eine Attitüde überheblicher Arroganz verzichtet. Die noble Schönheit dieser Musik, die es sich nicht billig macht und ihre Botschaft leise und duldsam verkündet. Eine Musik, die den Mut zu provokativer Einfachheit aufbringt, eine Musik, die nicht nach Akzeptanzen schielt, aber das Akzeptiertwerden lächelnd hinnimmt, indem sie menschliches Hören wieder erlaubt ... motorisch, kompensatorisch, vegetativ, diffus, emotional, sentimental, assoziativ, gleichviel ...

Vor bald zehn Jahren habe ich in einer Schrift über Arvo Pärt gesagt: «Unbeirrt von Modeströmungen und mit bewundernswertem Mut hat Arvo Pärt die Grenzüberschreitung, den Weg in die selbstgewählte ‹arte povera› vollzogen. Er hat hinter dem ein Jahrhundert lang als abgeklappertes Tonsystem verteufelten Dur-Moll-Prinzip eine verloren geglaubte Lebenskraft und Intensität entdeckt.» Dem stimmt Wolfgang Sandner zu: «Durch seine Werke, die sich alter Kompositionspraktiken bedienen, ohne sie zu restaurieren, wird sozusagen Luft von andern Planeten, die man schon für erloschen hielt, in die moderne Klangwelt geblasen.»
Dafür haben wir Ihnen, hochgeschätzter, lieber Arvo Pärt, zu danken ... zu danken aus vollem Herzen.

Armin Brunner (2005)





PRESSEREAKTIONEN AUF DIE LAUDATIO FÜR ARVO PÄRT

Südwest Presse Ulm (23. Juli 2005)
Pärts eigene, unverkennbare Musik hat der Lobredner Dr. Armin Brunner aus der Schweiz, als Theoretiker und Praktiker gleichermassen von Rang, so beschrieben: «Musik der Stille, der Gewaltlosigkeit, der Innerlichkeit, eine Musik ohne auftrumpfende Allüren, eine Musik jenseits doktrinärer Komplexitäten ...».

Rems- Zeitung Schwäbisch Gmünd (23. Juli 2005)
Nicht nur Arvo Pärt, auch der Laudator , Armin Brunner, gehören zu den führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit wie die Ausführenden der Pärtschen Passio ...

... die Laudatio umriss nicht nur Leben und Werk des Meisters ,sie charakterisierte Bemerkenswertes und Notwendiges bezüglich der Kriterien zeitgemässen Schaffens und Hörens. Armin Brunner, selbst brillanter Kenner und Förderer zeitgenössischer Musik, hatte dennoch den Mut, die Avantgarde kritisch zu würdigen und Pärt in Schutz zu nehmen vor unangemessener Kritik. ...
 
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