3.
DIE MUSIKALISCHE LESUNG
1. Beispiel:
Johann Wolfgang Goethe
DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER
Natur – Liebe – Freitod
Eine Lesung mit Musik
Musik: Leos Janacek (Streichquartett Nr. 2 „Intime Briefe“)
Einrichtung des Texte: Herbert Meier
Musikalische Einrichtung: Armin Brunner
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J.W. Goethe „Die
Leiden
des jungen Werther“ |
Gleich zwei Liebesverhältnisse
Zunächst geht es
um die elementare Beziehung zwischen Werther und Lotte, um das Grundmuster
aller unglücklichen Liebesverhältnisse sozusagen. Jenseits
dieser unglücklichen Beziehung gibt es noch eine andere. Aber
der, welcher an ihr Lust und vor allem Leid empfand, war kein Jüngling
wie Werther, sondern ein alter Mann namens Leos Janácek.
Unsterblich hatte er sich in die junge Kamila Stösslová
verliebt, unzählige Briefe schrieb er an die verheiratete Frau,
die allerdings zu jung und vor allem emotional zu befremdet war,
um sich auf diese Beziehung einzulassen. Das aber fachte die Glut
seiner Gefühle noch stärker an, so dass Janacek Sehnsüchte
und Illusionen in der Sprache seiner Musik vortrug, im Zweiten Streichquartett
’Intime Briefe’.
Dialog der Emotionen
Goethe lässt Werther intime Briefe an seine Lotte schreiben.
Janácek schreibt Intime Briefe an seine Kamilla. Was also
liegt näher, diese beiden Briefsammlungen miteinander zu kreuzen
in Form einer ‚Lesung mit Musik’? In ihr wird die Verbindung
zwischen Worten und Tönen aufgedeckt dergestalt, dass ein Dialog
der Emotionen beginnt und fortgesponnen wird. Die Auswahl aus Goethes
Briefroman konzentriert sich auf die Themen ‚Natur’,
‚Liebe’ und ‚Freitod’. Darüber werden
Fragmente aus Janáceks Streichquartett Intime Briefe wie
eine Folie gelegt, so dass sich ein spannungsvolles Wechselspiel
von gesagten und erlebten Gefühlen ergibt zwischen den Polen
von Hoffnung und Verzweiflung, Ruhe und Aufschrei.
Beziehungszauber zwischen Zuhören und
Miterleben
Immer wieder fährt die Musik in die Lesung hinein wie eine
Injektion. Berichtet der dichterische Text v o n den Gefühlen,
so i s t die Musik das Gefühl. Sie ist das hautnah spürbare
Klima in den Phantasielandschaften des Textes. Dort, wo die knappen
musikalischen Injektionen in den Text hineinfahren, geraten die
Zuhörenden in den lebendigen Blutkreislauf der Dichtung. In
den Zauber der Beziehungen zwischen Zuhören und Miterleben.
NZZ 17. September 1999
Ein Wurf: Goethe intim in der Arena
Werther leidet bis zur Selbstzerstörung. Gründlich gerät er in den Strudel seines inneren Erlebens in einer schier unglaublichen Spannungskurve- dank dem grossartigen Schauspieler Joseph Lorenz, der in anderthalb Stunden eine auf ungefähr ein viertel gekürzte Fassung des berühmten Briefromans von Goethe vorliest. Und wegen den Präzisen dramatischen Texteinrichtung von Herbert Meier, der Regie des vormaligen Neumarkt- Direktors Stephan Müller, welche mit einfachen Mitteln und einer sehr genau kalkulierten Körpersprache die Ausdrucksebenen vervielfacht. Die Überspanntheiten des Textes werden mit einer leisen, wohldosierten Ironie aufgefangen. Einen hohen Anteil am Gelingen der Gratwanderung hat aber auch die Musik. Armin Brunner wählte aus dem späten Streichquartett „intime Briefe“ von Leos Janácek kurze Abschnitte aus, ordnete sie bedeutungsgeladen, reduzierte mitunter auf bloss eine oder zwei Stimmen. So schuf er eine Bühnemusik, welche die Zuhörenden durch den Abend führt und die Spannung keinen Augenblick nachlassen lässt: ein Wurf. Das Zürcher Carmina Quartett liess Janácek von innen heraus leuchten. Premiere hatte diese neue Werther-Interpretation in Frankfurt an Goethes 250. Geburtstag, in Zürich wurde sie in Rahmen der von Brunner künstlerisch betreuen UBS-Arenakonzerte gezeigt.
Zürich, Kaufleuten, 15. September 1999
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Leo N. Tolstoj
„Kreutzersonate“ |
2. Beispiel:
DIE KREUTZERSONATE
von Leo N. Tolstoj
Eine Lesung mit Musik
Musik: Leos Janacek (Streichquartett Nr. 1 „Kreutzersonate“)
Einrichtung des Textes: Urs Meier
Musikalische Einrichtung: Armin Brunner
Verantwortlich: Beethovens ‚Kreutzersonate’
Nach den Erfahrungen des Erzählers in Tolstois ‚Kreutzersonate’
ist die Ehe verlogen, ein einziger Selbstbetrug. Während jedoch
der Protagonist für sich das Auskosten aller sinnlichen Leidenschaften
in Anspruch nimmt, stürzt ihn ein aussereheliches Verhältnis
seiner Frau in Verzweiflung, Raserei und Rachsucht. Die Musik, insbesondere
die ‚Kreutzersonate’ Beethovens, macht er als verderblichen
Antrieb des unerlaubten erotischen Begehrens verantwortlich. Krank
vor Mitleid und durch verletzte Eitelkeit blind vor Eifersucht,
ersticht er seine Frau.
Zwei ‚Kreutzersonaten’
Meistens begegnet man der Koppelung der Tolstoi-Novelle Die Kreutzersonate
mit Beethovens Kreutzersonate für Violine und Klavier. Dabei
vernetzen sich Text und Musik allerdings bloss oberflächlich,
wenn man sie nur addiert. Bei Tolstoi ist es der Geiger, der die
Ehefrau um Sinn und Verstand bringt, und weniger die Musik. Diesem
Irrtum sitzt auch der Protagonist in der Novelle auf, indem er die
Musik verantwortlich macht und nicht (wie es richtig wäre)
sich selbst.
Drei ‚Kreutzersonaten’
In dieser Lesung aus Tolstois meisterlicher Novelle wird auf Beethoven
verzichtet, denn es gibt einen weiteren Referenzpunkt: das Erste
Streichquartett von Leos Janácek mit dem Titel Kreutzersonate.
Hier reflektiert Janácek gleich zwei Ereignisse: einmal die
Violinsonate von Beethoven, zum anderen den dichterischen Text.
Die Collage der Novelle mit dem ausgewählten Partien (quasi
Partikel) aus dem Streichquartett folgt einer eigenen ästhetischen
Logik, nämlich den tief verborgenen Beziehungszauber im Dreieck
Tolstoi – Beethoven – Janácek ans Licht zu heben.
Schärfer als jede andere Musik artikuliert jene von Janácek
die Momente von Eifersucht, Raserei und Rachsucht. Deutlich führt
sie die Zuhörenden an solche Ränder, wo Absturzgefahr
droht und der Verlust des festen Bodens unter den Füssen.
Scharfe Fokussierung der Figuren und deren
Seelenleben
Mit anderen Worten: die Beethoven-Musik spielt in der Novelle die
Rolle der Verführung, weil der Geiger zum Verführer wird;
die Janácek-Musik lässt jenen Wirrwarr an Emotionen
fühlen, der sich nach der Verführung einstellt und zum
tödlichen Ausgang drängt. Insofern wird die Musik, parallelgeschaltet
mit dem Text, quasi eine psychoanalytische Lupe, welche Tolstois
Figuren und deren Seelenleben scharf und illusionslos fokussiert.
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