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  Armin Brunner
Die wichtigsten Konzepte



1. DAS STRINGENTE PROGRAMM

2. DAS DOKUMENTAR-KONZERT

3. DIE MUSIKALISCHE LESUNG

4. DAS MUSIKALISCHE PORTRÄT

5. KOMPONISTEN PORTRÄTS

6. WELTKLANG

3. DIE MUSIKALISCHE LESUNG

1. Beispiel:
Johann Wolfgang Goethe
DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER
Natur – Liebe – Freitod
Eine Lesung mit Musik
Musik: Leos Janacek (Streichquartett Nr. 2 „Intime Briefe“)
Einrichtung des Texte: Herbert Meier
Musikalische Einrichtung: Armin Brunner


J.W. Goethe „Die Leiden des jungen Werther“
J.W. Goethe „Die Leiden
des jungen Werther“



Gleich zwei Liebesverhältnisse
Zunächst geht es um die elementare Beziehung zwischen Werther und Lotte, um das Grundmuster aller unglücklichen Liebesverhältnisse sozusagen. Jenseits dieser unglücklichen Beziehung gibt es noch eine andere. Aber der, welcher an ihr Lust und vor allem Leid empfand, war kein Jüngling wie Werther, sondern ein alter Mann namens Leos Janácek. Unsterblich hatte er sich in die junge Kamila Stösslová verliebt, unzählige Briefe schrieb er an die verheiratete Frau, die allerdings zu jung und vor allem emotional zu befremdet war, um sich auf diese Beziehung einzulassen. Das aber fachte die Glut seiner Gefühle noch stärker an, so dass Janacek Sehnsüchte und Illusionen in der Sprache seiner Musik vortrug, im Zweiten Streichquartett ’Intime Briefe’.

Dialog der Emotionen
Goethe lässt Werther intime Briefe an seine Lotte schreiben. Janácek schreibt Intime Briefe an seine Kamilla. Was also liegt näher, diese beiden Briefsammlungen miteinander zu kreuzen in Form einer ‚Lesung mit Musik’? In ihr wird die Verbindung zwischen Worten und Tönen aufgedeckt dergestalt, dass ein Dialog der Emotionen beginnt und fortgesponnen wird. Die Auswahl aus Goethes Briefroman konzentriert sich auf die Themen ‚Natur’, ‚Liebe’ und ‚Freitod’. Darüber werden Fragmente aus Janáceks Streichquartett Intime Briefe wie eine Folie gelegt, so dass sich ein spannungsvolles Wechselspiel von gesagten und erlebten Gefühlen ergibt zwischen den Polen von Hoffnung und Verzweiflung, Ruhe und Aufschrei.

Beziehungszauber zwischen Zuhören und Miterleben
Immer wieder fährt die Musik in die Lesung hinein wie eine Injektion. Berichtet der dichterische Text v o n den Gefühlen, so i s t die Musik das Gefühl. Sie ist das hautnah spürbare Klima in den Phantasielandschaften des Textes. Dort, wo die knappen musikalischen Injektionen in den Text hineinfahren, geraten die Zuhörenden in den lebendigen Blutkreislauf der Dichtung. In den Zauber der Beziehungen zwischen Zuhören und Miterleben.


NZZ 17. September 1999

Ein Wurf: Goethe intim in der Arena
Werther leidet bis zur Selbstzerstörung. Gründlich gerät er in den Strudel seines inneren Erlebens in einer schier unglaublichen Spannungskurve- dank dem grossartigen Schauspieler Joseph Lorenz, der in anderthalb Stunden eine auf ungefähr ein viertel gekürzte Fassung des berühmten Briefromans von Goethe vorliest. Und wegen den Präzisen dramatischen Texteinrichtung von Herbert Meier, der Regie des vormaligen Neumarkt- Direktors Stephan Müller, welche mit einfachen Mitteln und einer sehr genau kalkulierten Körpersprache die Ausdrucksebenen vervielfacht. Die Überspanntheiten des Textes werden mit einer leisen, wohldosierten Ironie aufgefangen. Einen hohen Anteil am Gelingen der Gratwanderung hat aber auch die Musik. Armin Brunner wählte aus dem späten Streichquartett „intime Briefe“ von Leos Janácek kurze Abschnitte aus, ordnete sie bedeutungsgeladen, reduzierte mitunter auf bloss eine oder zwei Stimmen. So schuf er eine Bühnemusik, welche die Zuhörenden durch den Abend führt und die Spannung keinen Augenblick nachlassen lässt: ein Wurf. Das Zürcher Carmina Quartett liess Janácek von innen heraus leuchten. Premiere hatte diese neue Werther-Interpretation in Frankfurt an Goethes 250. Geburtstag, in Zürich wurde sie in Rahmen der von Brunner künstlerisch betreuen UBS-Arenakonzerte gezeigt.
Zürich, Kaufleuten, 15. September 1999


Leo N. Tolstoj „Kreutzersonate“
Leo N. Tolstoj „Kreutzersonate“



2. Beispiel:
DIE KREUTZERSONATE
von Leo N. Tolstoj
Eine Lesung mit Musik
Musik: Leos Janacek (Streichquartett Nr. 1 „Kreutzersonate“)
Einrichtung des Textes: Urs Meier
Musikalische Einrichtung: Armin Brunner

Verantwortlich: Beethovens ‚Kreutzersonate’
Nach den Erfahrungen des Erzählers in Tolstois ‚Kreutzersonate’ ist die Ehe verlogen, ein einziger Selbstbetrug. Während jedoch der Protagonist für sich das Auskosten aller sinnlichen Leidenschaften in Anspruch nimmt, stürzt ihn ein aussereheliches Verhältnis seiner Frau in Verzweiflung, Raserei und Rachsucht. Die Musik, insbesondere die ‚Kreutzersonate’ Beethovens, macht er als verderblichen Antrieb des unerlaubten erotischen Begehrens verantwortlich. Krank vor Mitleid und durch verletzte Eitelkeit blind vor Eifersucht, ersticht er seine Frau.

Zwei ‚Kreutzersonaten’
Meistens begegnet man der Koppelung der Tolstoi-Novelle Die Kreutzersonate mit Beethovens Kreutzersonate für Violine und Klavier. Dabei vernetzen sich Text und Musik allerdings bloss oberflächlich, wenn man sie nur addiert. Bei Tolstoi ist es der Geiger, der die Ehefrau um Sinn und Verstand bringt, und weniger die Musik. Diesem Irrtum sitzt auch der Protagonist in der Novelle auf, indem er die Musik verantwortlich macht und nicht (wie es richtig wäre) sich selbst.

Drei ‚Kreutzersonaten’
In dieser Lesung aus Tolstois meisterlicher Novelle wird auf Beethoven verzichtet, denn es gibt einen weiteren Referenzpunkt: das Erste Streichquartett von Leos Janácek mit dem Titel Kreutzersonate. Hier reflektiert Janácek gleich zwei Ereignisse: einmal die Violinsonate von Beethoven, zum anderen den dichterischen Text. Die Collage der Novelle mit dem ausgewählten Partien (quasi Partikel) aus dem Streichquartett folgt einer eigenen ästhetischen Logik, nämlich den tief verborgenen Beziehungszauber im Dreieck Tolstoi – Beethoven – Janácek ans Licht zu heben. Schärfer als jede andere Musik artikuliert jene von Janácek die Momente von Eifersucht, Raserei und Rachsucht. Deutlich führt sie die Zuhörenden an solche Ränder, wo Absturzgefahr droht und der Verlust des festen Bodens unter den Füssen.

Scharfe Fokussierung der Figuren und deren Seelenleben
Mit anderen Worten: die Beethoven-Musik spielt in der Novelle die Rolle der Verführung, weil der Geiger zum Verführer wird; die Janácek-Musik lässt jenen Wirrwarr an Emotionen fühlen, der sich nach der Verführung einstellt und zum tödlichen Ausgang drängt. Insofern wird die Musik, parallelgeschaltet mit dem Text, quasi eine psychoanalytische Lupe, welche Tolstois Figuren und deren Seelenleben scharf und illusionslos fokussiert.

 
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